Teil 2: Symptome, Komorbiditäten, Pathophysiologie, Neurobiologie

Die Vulvovodynie und ihre typischen Komorbiditäten Reizblase und Urethralsymdrom kommen bei mehr als 10 % aller Frauen in deren Leben vor, werden aber in der gynäkologischen Praxis meist primär als Vaginalmykose, bakterielle Vaginalinfektion oder Zystitis fehlinterpretiert. So dauert es Monate bis Jahre des Leidens bis zur richtigen Diagnose. In Teil 1 dieses Beitrags (FRAUEN- ARZT 9/2024) wurden nach Historischem die internationale Nomenklatur der Vulvodynie, ihre Kodierung in der ICD, die Epidemiologie und die Erfahrungen von Frauen bis zur richtigen Diagnose dargestellt. Es folgt nun der mehr klinische Teil mit der Symptomatik, später in Teil 3 die Diagnostik und Therapie.

Symptome

Betroffene Frauen klagen über schleichend oder plötzlich auftretendes Brennen, Stechen, Trockenheits- oder Wundgefühl, Schmerzen, gelegentlich auch starkes Jucken an den großen Labien, im Sulcus interlabialis oder perianal, spontan oder bei Berührung bzw. Penetration (Finger, Tampon, Penis, Radfahren, Reiten, Sitzen, Scheuern beim Gehen/Laufen). Penetrierender Geschlechtsverkehr ist oft unmöglich. Auch wird berichtet, dass der Schmerz vor der Regel verstärkt auftritt (ein Zusammenhang mit niedrigem Estrogenspiegel und vermehrter sensibler Innervation ist bewiesen). Auch Periodenblut oder pathologischer Fluor schmerzen oft im Vestibulumbereich.

Bei Vestibulodynie bzw. lokalisierter provozierter Vulvodynie ist die Berührung der U-förmigen Zone um den Hymenalsaum herum oder bei Klitoridynie die der Klitorisspitze schmerzhaft, da hier eine extrem hohe Dichte von Nervenfasern vorliegt (56), aber auch bei Vestibulodynie mehr Fasern als üblich eingesprosst sind.

Oft werden bei Auftreten einer Vulvo-/ Vestibulodynie Antibiotika wegen Symptomen einer Blasenentzündung oder wegen Vulvovaginalkandidosen Antimykotika verordnet. Diese Kombination ist typisch und statistisch signifikant auch in Studien zu finden (52, 139). Es ist meist später nicht mehr sicher zu evaluieren, ob es sich tatsächlich um Zystitiden oder („nur“) um ein Brennen im Bereich der Harnröhre mit Harndrang ohne wirkliche bakterielle Beteiligung gehandelt hat („Urethralsyndrom“, „Reizblase“, Überschneidungen zur überaktiven Blase / overactive bladder syndrome), die quasi die Schwester von Vestibulodynie sind und dem- entsprechend nicht mit einer Antibiotikatherapie geheilt werden können. Der endodermale Ursprung von Vestibulum und Blase erklärt den Zusammenhang zwischen Urethra-/Blasenschmerz bzw. interstitieller Zystitis und Vulvodynie/ Vestibulodynie, da dort in der Embryonalzeit bereits Einflüsse auf spätere Nozirezeptoren und Neuroproliferation vermutet werden.

Der an der UFK Düsseldorf als Psychoanalytiker und Psychiater über viele Jahre forschende Hans Molinski hat wie- derholt auf den engen Zusammenhang von vielfältigen Symptomen wie Brennen, Klopfen, Stechen, Jucken im Be- reich der Harnröhre und dem Scheideneingang hingewiesen als nicht infektiöse Korrelate einer gestörten Lustphysiologie (85, 86). Deshalb ist statt Mittelstrahlurin im Zweifel Katheterurin zur Diagnostik verlässlicher, zumal fast keine der in der eigenen Sprechstunde in Wuppertal befragten Patientinnen er- klärt bekommen hatten, dass der abgegebene Urin nicht die Labieninnenseite berühren darf und die dann im Urin gefundenen Coli-Bakterien gar nicht aus der Blase stammen! Im Urin solcher Pa- tientinnen werden als Zeichen einer Inflammation oft vermehrt Leukozyten, Protein und Erythrozyten, nicht aber Bakterien gefunden.

Candida-Arten bzw. eine Vulvovaginalkandidose können einerseits eine Vestibulodynie triggern (38, 40), andererseits wird „Brennen“ sehr oft fälschlicherweise von Patientinnen wie auch von Gynäkologinnen und Gynäkologen für eine Pilzerkrankung gehalten. Dann brennen auch die auf- oder ein- gebrachten Antimykotika im Vestibu- lum stark, was leider oft zum Ausprobieren weiterer Antimykotika führt und die Vestibulodynie sowie die psychische Verfassung der Patientin verschlimmert. Die im eigenen Zentrum in Wuppertal im Rahmen einer Dissertation retrospektiv ausgewerteten 457 Frauen mit Vestibulodynie hatten in 36 % auch Beschwerden in der Urethra und/oder der Harnblase mit vergeblichen antibiotischen Therapien angegeben. Außerdem gaben 12,7 % der Frauen an, dass ihre Vestibulodynie mit einer akuten und weitere 12 %, dass sie mit einer chronisch rezidivierenden Vulvovaginalkandidose begonnen habe. Allerdings waren nur 13 von 62 (21,7 %) der vaginalen Pilzkulturen bei uns positiv, obwohl Jucken und Brennen bestanden. Keine dieser Frau- en wies klinische oder mikroskopische Zeichen einer Vulvovaginalkandidose auf (139)!

Dectin-1, ein Oberflächenrezeptor vulvärer Epithelzellen, an den Glucan der Candida-Zellwand binden kann, ist bei Vestibulodynie oft stark erhöht. Vestibularzellen von Frauen mit Vestibulodynie produzieren in Anwesenheit von Candida albicans proinflammatorische Fibroblasten-Mediatoren wie Interleukin-6 und triggern so Schmerzen (38, 44).

Frauen mit Vestibulodynie und gleich- zeitiger leitliniengerecht diagnostizierter Vulvovaginalkandidose sollten deshalb nicht lokal, sondern nur oral antimykotisch behandelt werden, da Antimykotika bei Vestibulodynie zusätzliches starkes Brennen im Vestibulum verursachen.

Weitere Komorbiditäten

Funktionelle Schmerzsyndrome Frauen mit Vulvodynie leiden signifikant häufiger auch an funktionellen Schmerzsyndromen (6). Dazu gehören (s. auch Abb. 1):

  • chronische Migräne
  • chronischer Spannungskopfschmerz
  • chronische Kreuzschmerzen
  • Endometriose
  • Fibromyalgie
  • interstitielle Zystitis
  • Reizdarm-Syndrom
  • kraniomandibuläre Dysfunktion (als „CMD“ bekannt).

(„Herzklopfen“) und sind deshalb oft kardiologisch untersucht worden, erhal- ten eventuell Betablocker, und haben ei- nen erniedrigten systolischen Blutdruck, besonders bei primärer Vulvodynie.

Bei 1.183 Frauen mit Vulvodynie in 21 italienischen Zentren wurden (u. a.) Harnwegsinfekte in 37,4 %, Reizdarmsyndrom in 28 %, Obstipation in 23,5 %, Kopfschmerzen in 25,7 %, Migräne in 18 %, Angststörung in 15 % und ausgeprägte Depression in 7,6 % der Fälle an- gegeben (53).

Es gibt auch Hinweise dafür, dass die erst seit etwa 20 Jahren beschriebene und sehr belastende Persistent Genital Arousal Disorder / Genito-Pelvic Dysesthesia (PGAD/GPD) (51) anamnestische Gemeinsamkeiten zur Vulvodynie aufweist. Die PGAD/GPD inkludiert Schmerzsyndrome im weiblichen Genitalbereich, als auch ungewollte genitale Erregung. Hier werden ebenso Zusammenhänge mit psychosozialen Stressoren, aber auch biologischen Ursachen beschrieben (51, 145).

Pathophysiologie, Neurobiologie

Das neue neuroendokrine Stressmodell

Es gibt wissenschaftliche Evidenz da- für, dass somatoforme Schmerzstörungen, wie zum Beispiel die kraniomandibuläre Dysfunktion oder das Fibromyalgie-Syndrom, völlig unabhängig von einem peripheren Auslöser als rein zentral bedingtes Schmerzsyndrom verstanden werden können (33, 35). Anhaltende und individuell nicht zu bewältigende psychosoziale Belastungen und eine erhöhte psychische Vulnerabilität sind hierfür häufig die Auslöser.

Unser Gehirn arbeitet zur Energieeinsparung mit Vorannahmen und Erwartungen, welche sich aus der Integration vorausgegangener Prägungen und Lernprozesse sowie aus aktuellen biologischen, psychischen und sozialen Einflussfaktoren entwickeln („predictive processing“). Bei Chronifizierung von Schmerzzuständen wird davon ausgegangen, dass eine gesteigerte Schmerz- und Stresserwartung zugrunde liegt. Aufgrund schlechter Vorerfahrungen ist somit das „Alarmsystem“ hochgefahren. Dadurch kann es zur Fehlinterpretation von bereits geringen Stimuli („Gefahr im Verzug“) kommen und die Stimuli können als Hinweis für eine körperliche Schädigung missinterpretiert werden.

Soziale Zurückweisung und Ausgrenzung kann z. B. auch schmerzverstärkend, soziale Unterstützung hingegen schmerzlindernd wirken (36).

Darüber hinaus haben Frauen mit Vulvodynie oft einen erhöhten Ruhepuls

(„Herzklopfen“) und sind deshalb oft kardiologisch untersucht worden, erhalten eventuell Betablocker, und haben einen erniedrigten systolischen Blutdruck, besonders bei primärer Vulvodynie.

Bei 1.183 Frauen mit Vulvodynie in 21 italienischen Zentren wurden (u. a.) Harnwegsinfekte in 37,4 %, Reizdarmsyndrom in 28 %, Obstipation in 23,5 %, Kopfschmerzen in 25,7 %, Migräne in 18 %, Angststörung in 15 % und ausgeprägte Depression in 7,6 % der Fälle angegeben (53).

Es gibt auch Hinweise dafür, dass die erst seit etwa 20 Jahren beschriebene und sehr belastende Persistent Genital Arousal Disorder / Genito-Pelvic Dysesthesia (PGAD/GPD) (51) anamnestische Gemeinsamkeiten zur Vulvodynie aufweist. Die PGAD/GPD inkludiert Schmerzsyndrome im weiblichen Genitalbereich, als auch ungewollte genitale Erregung. Hier werden ebenso Zusammenhänge mit psychosozialen Stressoren, aber auch biologischen Ursachen beschrieben (51, 145).

Pathophysiologie, Neurobiologie

Das neue neuroendokrine Stressmodell

Es gibt wissenschaftliche Evidenz da- für, dass somatoforme Schmerzstörungen, wie zum Beispiel die kraniomandibuläre Dysfunktion oder das Fibromyalgie-Syndrom, völlig unabhängig von einem peripheren Auslöser als rein zentral bedingtes Schmerzsyndrom verstanden werden können (33, 35). Anhaltende und individuell nicht zu bewältigende psychosoziale Belastungen und eine erhöhte psychische Vulnerabilität sind hierfür häufig die Auslöser.

Unser Gehirn arbeitet zur Energieeinsparung mit Vorannahmen und Erwartungen, welche sich aus der Integration vorausgegangener Prägungen und Lernprozesse sowie aus aktuellen biologischen, psychischen und sozialen Einflussfaktoren entwickeln („predictive processing“). Bei Chronifizierung von Schmerzzuständen wird davon ausgegangen, dass eine gesteigerte Schmerz- und Stresserwartung zugrunde liegt. Aufgrund schlechter Vorerfahrungen ist somit das „Alarmsystem“ hochgefahren. Dadurch kann es zur Fehlinterpretation von bereits geringen Stimuli („Gefahr im Verzug“) kommen und die Stimuli können als Hinweis für eine körperliche Schädigung missinterpretiert werden.

Soziale Zurückweisung und Ausgrenzung kann z. B. auch schmerzverstärkend, soziale Unterstützung hingegen schmerz- lindernd wirken (36).

Negative Emotionen (Angst, Depression) führen zu einer Herabsetzung der Schmerzschwelle und als Folge kommt es zu einer verstärkten Schmerzwahrnehmung. Der hierfür ursächliche zentrale Sensitivierungsprozess ist zudem durch insuffiziente deszendierende Hemmung zu interpretieren (24, 33).

Eine unzureichende „Top-Down-Kontrolle“ infolge einer weitgehend fehlenden Aktivierung aller an der Stressverarbeitung beteiligten Hirnareale sowie des deszendierend hemmenden Schmerzsystems wurde auch bei Patienten mit Fibromyalgie-Syndrom im Vergleich zu Gesunden beobachtet (68). Dies kann durch zentrale Mechanismen, wie z. B. Dauerstress, aufgrund anhaltend hoher Kortisol-Spiegel zu einer toxischen Schädigung der genannten Hirnbereiche führen (26, 118). Infolge des anhaltenden Hyperarousals kommt es zu einer erhöhten, dysfunktionalen Muskelanspannung, wie es bei Patienten mit chronischem unspezifischen Rücken- schmerz (46) und kraniomandibulärer Dysfunktion (CMD) (45) beobachtet wurde. Dies kann auch auf den Beckenboden und die dort zu beobachtende vermehrte muskuläre Spannung übertragen werden.

Neben diesem System der Leitung und Modulierung eines Schmerzreizes über neuronale Prozesse ist in den letzten Jahren ein weiteres, nicht-neuronales Schmerzsystem wissenschaftlich er- forscht und inzwischen gut gesichert worden. Bei diesem spielen proinflammatorische Zytokine eine zentrale Rolle. Im Unterschied zur „klassischen“ Neuroinflammation (infolge mikrobieller Infekte, Autoimmunprozessen, Umwelttoxinen usw.) kann es dabei über eine neurogene Triggerung (z. B. durch schädigende Stimuli, wie z. B. psychischen Stress) zu einer verstärkten Aktivierung neurotoxischer Prozesse (v. a. durch Aktivierung von IL-1?, IL-6, TNF?, CRP) kommen, welche zu einer anhaltenden Dysfunktion ebenso wie zu irreversiblen Schädigungen in bestimmten Bereichen des ZNS führen können. Dabei kommt in der Peripherie der Aktivierung von Makrophagen, im ZNS der Aktivierung von Mikroglia, welche diese Zytokine frei- setzen und dadurch in der zentralen Schmerzwahrnehmung Booster-Effekte auslösen, eine zentrale Bedeutung zu.

Unterschiedliche Formen von psychischem Disstress in der Kindheit und Jugend wirken sich auch unterschiedlich auf die o. g. Entzündungsparameter aus: Körperliche Misshandlung und sexueller Missbrauch gehen mit erhöhten IL-6- und vor allem TNF?-Werten, emotionale Vernachlässigung mit erhöhten CRP- Werten im Blut einher (153).

In Metaanalysen wurde mit Odds Ratios (OR) zwischen 2,5 und 4 ein signifikant erhöhtes Risiko für das Auftreten unter- schiedlicher chronischer Schmerzsyndrome im Erwachsenenalter nach psychosozialen Traumatisierungen in Kindheit und Jugend festgestellt (1, 141). Deshalb kommt im klinischen Alltag der Anamnese bis in die Kindheit hinein große Bedeutung zu, sie widerspiegelt die klinischen Folgen der oben beschriebenen neurobiologischen Ursachen.

Die besondere Bedeutung des Beckenbodens

Die Beckenorgane und der Beckenbodenbereich werden von sympathischen und parasympathischen Nerven des Plexus hypogastricus inferior, dessen Stränge präsakral im Ganglion impar einmünden, des sympathischen Nervus splanchnicus und vom somatischen Nervensystem der Regionen zwischen thorakal 10 und lumbal 1 sowie sakral 2–4 inner- viert. Der Pudendusnerv versorgt die Beckenboden-/Vulvaregion somatisch- sensorisch und motorisch.

Der Beckenboden ist ein „emotionales Organ“ und kontrahiert bei Stress ähnlich wie die Schultermuskulatur. Dies gehört zur allgemeinen Abwehrreaktion des Körpers auf Angst bei Bedrohungen (138). So reagiert auch ein Hund, in- dem er angstvoll den Rücken krümmt und den Schwanz einzieht, d. h. den Beckenboden anspannt.

Elektromyografisch konnte gezeigt wer- den, dass sich die Beckenbodenmuskulatur bei Angst kontrahiert und sich damit die Durchblutung verschlechtert. Bei sexueller Aktivität bzw. schon bei sexuellen Fantasien ist das Gegenteil der Fall, die Muskulatur entspannt sich und die Durchblutung wird verstärkt (15).

Ärzte betrachten den Beckenboden überwiegend als eine muskuläre Funktionseinheit, die bestimmte Aufgaben zu erfüllen hat. Unsere Patientinnen verstehen unter dem gleichen Wort Beckenboden aber etwas ganz anderes. Für sie ist der Beckenboden eine Region des Körpers, auf die emotionale Reaktionen und Fantasien gerichtet werden, ein Ort und Interaktionsfeld, wo Beziehung zu anderen Menschen stattfindet und gelebt wird. Außerdem ist es eine Region, die Zuwendung, Pflege und Körperhygiene verlangt. Der Beckenboden hat somit einen Stellenwert in einem sehr viel weiteren psychologisch-psychosomatischen Rahmen und kann da- mit zum Zielort vieler psychischer und psychosomatischer Symptome werden.

Es gilt als gesichert, dass eine belastete Kindheit zur späteren Vulvodynie bei- trägt. Dazu gehören ein Mangel an Liebe und Geborgenheit mit Vernachlässigung von körperlichen und seelischen Bedürfnissen, besonders im frühen Kleinkindalter, körperliche und seelische Misshandlung, sexueller Missbrauch, posttraumatische Belastungsstörungen u. a. m.

Viele Frauen mit Vulvodynie sind perfektionistisch veranlagt, Sie berichten von wiederholten Verlust- und/oder Kränkungssituationen. Daher finden sich bei Vulvodynie-Patientinnen auch häufiger Vorerfahrungen mit Psychotherapie.

Erstmals wurde der Zusammenhang zwi- schen chronischem Stress in der Kindheit und Beginn einer Vulvodynie im Erwachsenenalter anhand einer qualifizierten Befragung von über 12.000 Frauen in der Gegend von Boston 2014 nachgewiesen (71).

Momentan wird ein Erklärungsmodell favorisiert, wonach ein Wechselspiel zwischen biopsychosozialen Faktoren eine Vulvodynie entstehen lässt und medizinische und psychosoziale Mechanismen zur Chronifizierung und Exazerbation von Vulvodynie und ihren Komorbidi- täten beitragen (6, 113) (Abb. 1 auf S. 723).

Demnach ist Vulvodynie kein „sinnvoller“ Schmerz zum Schutz des Körpers vor Nachteilen durch Verletzung, sondern ein Schmerz ohne biologische Funktion, der durch das zentrale Nervensystem oh- ne Stimulation peripherer Nozirezeptoren generiert werden kann und/oder bereits durch diskrete Reize ausgelöst wird.

Im Gegensatz zu uns sehen Bornstein et al. (14) in der Vulvodynie eine neuro- inflammatorische Erkrankung, die ihren Ursprung im pelvinenviszeralen (Frankenhäuser’schen) Nervenplexus hinter geschwächten oder erschlafften Sakrouterinligamenten und Beckenbodenmuskeln haben soll. Dadurch würden afferente Signale falsch interpretiert, führten zur Aktivierung von sensorischen viszeralen Nerven von Vagina, Bartholin’schen Drüsen und Vulva mit Neuroproliferation kleiner sensorischer Fasern und der Folge von Hyperalgesie und Allodynie im Endgebiet der Fasern. Falls afferente Fasern von Urethra, Blase oder kleinem Becken betroffen sind, resultieren interstitielle Zystitis, perianaler Schmerz, pelviner Muskelschmerz oder Kokzygodynie. Da somatische sensorische Nervenfasern über den Nervus pudendus in die Vulva führen, sei eine Nervus-pudendus-Neuralgie durch Kompression oder andere Nervenirritation fast immer einseitig, während Vulvodynie beidseitig auftritt (14). Das wiederum entspricht den eigenen Erfahrungen mit mindestens 1.500 Vulvodynie Patientinnen und nur zwei Frauen mit jeweils einseitiger Pudenusneuralgie (einmal durch Einengung im Alcock’schen Kanal, einmal durch ein Neurinom). Allerdings kommt es nicht selten vor, dass Vulvodynie auf einer Vulvaseite beim Q-Tip-Test verstärkt empfunden wird, wenn eine ipsilaterale Blockade des Iliosakralgelenks bekannt ist. Dann wird auch der transvaginale Fingerdruck auf den (dann angespannten) Musculus obturatorius auf dieser Seite als unangenehm empfunden.

Transperineale 4D-Ultraschallmessungen haben im Gegensatz zu Bornstein et al. (14) ergeben, dass Frauen mit provozierter Vestibulodynie einen höheren (!) muskulären Tonus der Beckenbodenmuskulatur als Frauen ohne Vestibulodynie aufweisen und bei willentlicher Kontraktion geringere Kraftentwicklung aufbringen (88). Schmerz bei Penetration erhöht diese Muskelspannung und steigert so das Schmerzempfinden.

Der erhöhte Muskeltonus ist häufige Ursache von Harndrang, Bauchschmerzen, Dyspareunie, Anorgasmie oder schmerzhaftem Orgasmus, Schmerz durch Kleidung oder Bewegung (Reibung der Labien), Schmerz beim Sitzen usw. (101) (Abb. 2).

Abb. 2: Die Vulvodyniepatientin gibt im Bereich des dorsalen Introitus meistens die stärksten Schmerzen an. Unmittelbar unter der Haut befindet sich das Centrum tendineum perinei, wo sich die pathologisch erhöhte Spannung des muskulären Beckenbodens konzentriert (aus Richter 2022).

Genpolymorphismen, Heparanase, Neuroproliferation

Bei vielen Frauen mit Vulvodynie bestehen Genpolymorphismen, die Zytokine, den Interleukin-1-Rezeptorantagonisten, das Interleukin-1? sowie das Mannose-bindende Lektin (MBL) kodieren. Das führt zu vermehrten inflammatorischen Reaktionen (75).

Bei lokalisierter Vulvodynie wurden eine gegenüber gesunden Frauen signifikant vermehrte vulväre Innervation im Oberflächenepithel und eine vermehrte Zahl von Mastzellen mit vermehrter Degranulation und stark vermehrter Heparanase Aktivität im Introitusgewebe gefunden. Heparanase wird von Mastzellen gebildet und greift das vestibuläre Gewebe und seine Basalmembran an, sodass u. a. vermehrt Nerven einsprossen, die für erhöhte Schmerzempfindlichkeit verantwortlich sind (11). Mastzellen können bei Vestibulodynie in erhöhten Konzentrationen von mehr als 40 Mastzellen pro mm2 Gewebe vorkommen und einen Hinweis auf ein aktiviertes Immunsystem geben (110, 135). Verbindungen zur neuerdings häufiger diagnostizierten Histaminintoleranz, auch zu Autoimmunerkrankungen, Atopien und Allergien sind denkbar.

Immunhistochemische Untersuchungen ergaben bei Frauen mit primärer Vestibulodynie eine signifikant vermehrte neuronale Hypertrophie und Hyperplasie so- wie erhöhte Progesteronrezeptor-Nach- weise, sodass die Autoren hier andere histopathologische Wege als bei sekundärer Vestibulodynie annehmen (74).

Candida-Mykose als Trigger

Candida (C.) albicans ist ein wichtiger Triggerfaktor von Vestibulodynie (5, 38, 40). Dectin-1, ein Oberflächenrezeptor von vulvären Epithelzellen, der C.-albi- cans-Zellwand-Glukan bindet, ist bei Vestibulodynie-Patientinnen stark erhöht vorhanden. Zusätzlich produzieren Vestibularzellen von Frauen mit Vestibulodynie bei Anwesenheit auch weniger Zellen von C. albicans proinflammatorische Fibroblasten-Mediatoren, besonders Interleukin-6, die zum Schmerz beitragen (38, 44). Möglicherweise ist die häufig vorkommende Candida-Infektion aber auch Folge der vegetativen Dysbalance im Stress mit Reduktion der vagalen Aktivität.

Estrogene, Gestagene

Aber auch B-Zellen und reife IgA-Plasmazellen als Ausdruck einer lymphatischen Vestibulum-assoziierten Reaktion wie sonst bei Mukosa-assoziierten Ge- weben werden bei Vestibulodynie vermehrt gefunden (134).

Erhöhte Estrogenspiegel, z. B. periovulatorisch, führen meist zur Schmerzlinderung, während die prämenstruelle Situation zur Verstärkung des Schmerzes beiträgt (6). Aber auch jahrelange Einnahme von oralen Kontrazeptiva, besonders mit starker androgener und niedriger östrogener Wirkung, können Vestibulodynie negativ beeinflussen (16).

Einfluss des vulvovaginalen Mikrobioms?

Es ist aufgrund der wenigen vorhandenen Studien noch unklar, ob Vulvodynie vom vulvovaginalen Mikrobiom direkt beeinflusst wird. Eine eigene Pilotstudie mit relativ kleiner Fallzahl (n = 83) in Zusammenarbeit mit Prof. Jacques Ravel (Institute for Genome Sciences, University of Maryland, Baltimore, USA) zeigte keine signifikanten Unterschiede des vestibulären Mikrobioms zwischen Klitorisspitze und Urethra bei gesunden Frau- en, Frauen mit Vestibulodynie, Frauen mit atopischer Vulvitis und Frauen mit Lichen sclerosus (Georgios Floros, Werner Mendling, Jacques Ravel, 2018, unveröffentlicht).

In einer Studie an 234 Frauen mit Vulvodynie und einem gleich großen Kontrollkollektiv wurden ebenfalls keine signifikanten Unterschiede zwischen beiden Kollektiven gefunden, aber eine starke Assoziation der Alpha-Diversität (der Mikrobiomdiversität des Profils einer Probe). Beta-Diversität ist die Mikrobiomdiversität zwischen verschiedenen Proben bei Frauen mit der wachsenden Anzahl vorausgegangener Pilzinfektionen und dem Beginn einer Vulvodynie (Odds Ratio 8,1 bei > 5 vulvovaginalen Pilzinfektionen). Außerdem wurde bei Frauen mit niedriger Diversität des Mikrobioms eine starke Assoziation von Missbrauch in der Kindheit, vorausgehender Angststörung, Depression, starkem Grübeln und Vulvodynie gefunden. Das war bei Frauen mit hoch-diversem Mikrobiom nicht der Fall (5).

Vulvodynie und Partnerschaft

Frauen mit provozierter Vestibulodynie berichten in Fragebögen über eine signifikant verminderte Sexualfunktion und sexuelle Befriedigung sowie über eine erhöhte Schmerzsensibilität (116). Paare, von denen die Frau unter provozierter Vestibulodynie leidet, haben einen um etwa 25 % erhöhten Grad von Besorgnis um den Partner, was hauptsächlich durch den erlebten Schmerz beim Koitus vermittelt wird und im Wechsel- spiel Depression und sexuelle Befriedigung beeinflusst (109). Ein höheres Maß an gegenseitiger sexueller Intimität und Tiefe der Paarverbindung beeinflusst positiv Schmerzverarbeitung und sexuelle Zufriedenheit. Frauen mit pro- vozierter Vestibulodynie zeigten im Laborversuch (Messung des genitalen Blutflusses beim Ansehen von drei Filmen, darunter ein erotischer Film) eine geringere sexuelle Erregung als solche ohne Vestibulodynie (17).

Vulvodynie und Schwangerschaft

Eine kürzlich im British Medical Journal erstmals zu dieser Thematik durchgeführ-te australische Metaanalyse aus 21 eingeschlossenen weltweit durchgeführten Studien mit weit über 70.000 Patientinnen ergab, dass traumatische Erlebnisse in der Kindheit einen negativen Einfluss auf die psychische und körperliche Gesundheit der nächsten Generation aus- üben, also auf die Schwangerschaft und das Kind dieser Patientin. Das war besonders ausgeprägt, wenn mindestens vier

„Ereignisse“ (emotionaler oder sexueller Missbrauch, erzwungener Sex in der Partnerschaft, körperliche oder seelische Ge- walt, körperliche und psychische Vernachlässigung, Erleben von Gewalt zwi- schen den Eltern usw., aber auch „economic hardship“ (Armut)) vorgekommen waren (77). So steigt dann im Erwachsenenalter das Risiko für eine Frühgeburt oder niedriges Geburtsgewicht, Hypertonie, Gestationsdiabetes, Depression oder Angststörung in der Schwangerschaft.

Bei Frauen mit Vulvodynie liegen oft ähnlich traumatische Kindheitserfahrungen vor. Somit darf geschlossen wer- den, dass bei Frauen mit Vulvodynie im Fall einer Schwangerschaft ähnliche Komplikationen wie in dieser Metaanalyse auftreten.

Die Autoren fordern, dass im Fall einer Schwangerschaft bei allen Frauen mit einigen anamnestischen Fragen nach traumatischen, belastenden Erlebnissen in der Kindheit gefahndet werden sollte, um frühzeitig Schwangerschaftskomplikationen vorbeugen oder erkennen zu können.

Allgemein ist diese Problematik noch nicht in der Gesellschaft und in der Ärzteschaft angekommen. Viele fühlen sich in Zeitnot oder überfordert. Jedoch sind wenige Zeichen einer empathischen Anteilnahme oft bereits Therapie!

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Vulvodynie – ein brennendes Problem Teil 2