Teil 1: Historie, Definition, Kodierung, Erfahrungen der Frauen bis zur richtigen Diagnose, Epidemiologie
W. Mendling, D. Wetzel-Richter, D. Richter
W. Mendling, D. Wetzel-Richter, D. Richter
Frauen mit Vulvodynie sind in einer gynäkologischen Praxis sehr häufig. Sie werden aber meist erst nach Monaten bis Jahren richtig diagnostiziert und haben deshalb nicht nur eine unnötig verlängerte Leidenszeit mit erheblichen Belastungen des diagnostischen und therapeutischen Budgets, sondern es verschlechtert sich auch durch zunehmende Manifestation der Erkrankung ihre Prognose. Dieser Beitrag soll dem entgegenwirken und die in Deutschland noch zu gering im Fokus stehende Erkrankung bekannter machen.
Die Vulva ist jahrhundertelang ein eher verteufeltes Mysterium, gleichzeitig aber auch ein pornografisch erlebtes oder schambesetztes und unbekanntes Organ gewesen, dem erst in den letzten etwa 20 Jahren mehr sachliche und aufklärerische Aufmerksamkeit gewidmet wird, zum Beispiel durch Publikationenwie
– Mithu Sanyal: Vulva – Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts. Wagenbach Verlag 2009
– Daniel Haag-Wackernagel: Das Ende der Scham. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. 5. 2021.
Viele Frauen, auch jüngere, haben ihre Vulva nie bewusst angeschaut und können sie deshalb nicht korrekt beschreiben (73, 114). Die oft in der Sprechstunde zu hörender Angabe: „Meine Scheide brennt, juckt, tut weh“ ist dementsprechend typisch. Der britische Künstler Jamie McCartney stellte 2006 Gipsabdrücke der Vulven von 400 Frauen unter dem Namen „The Great Wall of Vagina“ auf, was er erst 2022 auf Druck von Engagierten in „The Great Wall of Vulva“ änderte.
Unter Vulva versteht man die großen und kleinen Labien (Vulvalippen; der bisherige Begriff Schamlippen sollte zukünftig vermieden werden, weil sich dafür niemand schämen muss), die Region der Klitorisspitze mit der vorderen Kommissur bis zur Haargrenze zum Monspubis hin, das Vestibulum mit dem Introitus vaginae und dem Hymenalring sowie die hintere Kommissur mit der Dammregion. Vulvaerkrankungen, z. B. Lichen sclerosus, Lichen planus, Lichen simplex chronicus oder Vulvodynie, betreffen oft auch die Perianalregion.
In diesem Zusammenhang sollte nach unserer Auffassung die auf ontogenetischen, embryologisch determinierten Kompartimenten aufbauende Anatomie, die für die Entwicklung von Karzinomen und ihre operative Therapie ähnlich des mesometrialen Kompartiments des Uterus von großer Bedeutung ist, mehr Beachtung finden (64).
Das Vestibulum beginnt am Hymenalsaum (veraltet und für Frauen nachteilig: „Jungfernhäutchen“) und besteht aus nicht verhornendem Plattenepithel meso-/endodermalen Ursprungs, während das verhornende Plattenepithel der Vulva ektodermalen Ursprungs ist. Die Grenze verläuft etwa in der Mitte der inneren Seite der kleinen Labien (Abb. 1), wo meist gut eine rosafarbene innere in eine mehr oder weniger stark pigmentierte äußere Zone übergeht, und wird nach dem Gynäkologen David Berry Hart aus Edinburgh „Hart’sche Linie“ genannt (59). Dieser Begriff wird in deutschen Lehrbüchern meist nicht erwähnt, ist aber zum Verständnis der Vestibulodynie wichtig.
In der Haut des Vestibulums münden vor dem Hymenalsaum bei etwa 5 und 7 Uhr die Bartholin’schen Drüsen. Es existieren zahlreiche weitere, klinisch unbemerkte, histologisch aber darstellbare kleine Vestibulardrüsen bis maximal 2 Millimeter Tiefe im gesamten Vestibulum. Das Pendant zur Prostata beim Mann sind die Paraurethraldrüsen (Skene’sche Drüsen), die individuell höchst unterschiedlich an Zahl und Volumen vorhanden sein können und davon abhängig wenig bis sehr viel Sekret bei sexueller Erregung und beim Orgasmus absondern können (weibliche Ejakulation, englisch squirting). Obwohl G. I. Kobelt bereits 1844 in einer ausführlichen Darstellung die „männlichen und weiblichen Wollustorgane in ihrer anatomisch wahren Größe, Struktur und Ausdehnung“ korrekt dargestellt hat und auch Hart und Barbour 1882 die Klitoris mit ihrer sichtbaren Spitze unter der Vorhaut und den beiden langen, nicht sichtbaren Schenkeln richtig beschrieben haben, ist dieses Wissen verloren gegangen oder wurde unterdrückt durch die gesellschaftlichen Verhältnisse. Die frühere Negierung weiblicher Lust durch die katholische Kirche (und ihre Ablehnung gelebter Sexualität bei Priestern mit allen negativen Folgen) und die patriarchalische Gesellschaft wirkt in die von Männern dominierte Wissenschaft bis heute hinein.
Es ist das Verdienst des Schweizer Biologen und Kulturwissenschaftlers Daniel Haag-Wackernagel, im deutschsprachigen Raum mit tradiertem Unwissen zum Bulbo-Klitoridalorgan aufgeräumt zu haben (55).
Das jahrzehntelang als „Gräfenberg-Punkt“ („G-Spot“) durch Medizin und Medien geisternde sexuell besonders erregbare Areal im vorderen Teil der vorderen Vaginalwand existiert anatomisch so nicht (das wurde von Ernst Gräfenberg in seiner Arbeit 1950 auch nicht behauptet) und entspricht einer sexuell besonders empfindlichen Region. Das liegt an den beiden Klitorisschenkeln und den damit eng verbundenen Vorhofbulben (Bulbus vestibuli), die sich in dieser Region teilen und dort engen Kontakt zur Harnröhre und vorderen Vaginalwand haben (25, 55, 62). Diese enge Nachbarschaft erklärt aber auch bei Vestibulodynie die Schmerzhaftigkeit der Harnröhre spontan oder bei Druck, z. B. mit dem Finger, dem Penis oder dem vorderen Blatt des Spekulums.
„Brennen an der Vulva“ wird seit mehr als 100 Jahren beschrieben. Seit etwa 1975 ist in Fachkreisen das „Burning Vulva Syndrome“ bekannt, das später auch „Vulvodynie“ genannt wurde. Im Jahr 1987 beschrieb Eduard G. Friedrich aus Florida die Befunde von 86 Patientinnen mit Schmerzen im Bereich des Introitus, von denen er 50 in einer Studie auswertete. Er nannte das Krankheitsbild „Vulvar Vestibulitis Syndrome“ und wies darauf hin, dass die Erkrankung bereits seit mindestens 1889 im gynäkologischen Schrifttum bekannt, seit 1928 aber praktisch nicht mehr in Lehrbüchern erwähnt worden war. Erst durch die Untersuchungen von Marylynne McKay, Eduard Friedrich und einigen anderen gab es im internationalen gynäkologischen und dermatologischen Schrifttum wieder Arbeiten zu dem Thema, wobei nur wenige aus Deutschland stammten (Literatur bei Mendling (81, 82)).
Die Dermatologin und Psychoanalytikerin Ilse Rechenberger (UFK Düsseldorf (105)) schrieb 1980 zum Pruritus vulvae: „In der gynäkologischen und der dermatologischen Sprechstunde wird oft über Juckreiz geklagt. Es ergab sich der sprichwörtliche Begriff ‚Witwenpruritus‘. Genitalpruritus kann, muss aber nicht, ein Äquivalent sexueller Erregung sein.
So finden wir Juckreiz nicht ausschließlich bei sexuellen Spannungen, sondern ebenso oft bei verhaltener Wut, Ärger,Trauer, Freude, bei Gefühlen des Alleingelassenseins und der inneren Leere …
Es handelt sich hierbei um Affekte, die nicht bewusst werden und darum nicht psychisch verarbeitet werden können
…“ Der Pruritus vulvae ist also ein komplexes psychosomatisches Geschehen, dessen Diagnose und Therapie erfordern dementsprechend eine mehrdimensionale Vorgehensweise (Richter (112, 115)).
Definition
Mit Vulvodynie werden Schmerzen im Bereich der Vulva bezeichnet, die seit mindestens drei Monaten bestehen und bei denen sich keine offensichtlichen infektiösen, entzündlichen, neoplastischen oder neurologischen Ursachen erkennen lassen. Spezifische
Ursachen, wie z. B. ein Lichen sclerosus, können zusätzlich vorhanden sein (13). In der S2k-Leitlinie „Chronischer Unterbauchschmerz der Frau“ (131) wird der Vulvodynie ein Kapitel gewidmet, das den internationalen Publikationen entspricht.
Es wird zwischen generalisierter und lokalisierter Form (z. B. Klitoridynie, Vestibulodynie) sowie zwischen provozierter (nur nach einer Berührung) bzw. nicht provozierter (spontaner) Vulvodynie unterschieden. Primäre Formen bestehen seit dem Jugendalter, sekundäre entstehen irgendwann nach anfangs unauffälligem Erleben (Tab. 1).
Dabei handelt es sich um eine chronische, primäre somatoforme Schmerzstörung als Folge eines komplexen Zusammenspiels von peripheren und zentralen Schmerzmechanismen mit erhöhter Muskelspannung und Dysfunktion im Beckenbereich (auch in der gesamten Muskulatur), häufig mit Angst, Neigung zur Katastrophisierung und Depression, nach Gewalterfahrung, Vernachlässigung und anderen negativen Erfahrungen in der Kindheit sowie affektiven und konfliktreichen interpersonellen Vorerfahrungen (5, 109, Abb. 2).
Zentrale Schmerz- und Stressverarbeitungsmechanismen sind durch die beschriebenen biografischen Belastungen oft so moduliert, dass der Schmerz intensiver empfunden oder gar durch Stressoren induziert wird (35). Auch traumatische Erfahrungen im späteren Lebensalter und vor allem wiederholte psychische und körperliche Traumatisierungen wie auch sexueller Missbrauch können hier ursächlich beschrieben werden (6).
Die aktualisierte AWMF-Leitlinie „Chronischer Unterbauchschmerz der Frau“ (S2k), in die auch ein Kapitel zur Vulvodynie eingefügt ist, definiert: „Der chronische Unterbauchschmerz ist charakterisiert durch eine Dauer von mindestens sechs* Monaten. Er kann zyklisch, intermittierend-situativ und/ oder nicht zyklisch auftreten. Die Lebensqualität kann beeinträchtigt sein.
Biologische und psychosoziale Faktoren spielen in Prädisposition, Auslösung und Chronifizierung eine Rolle. Die Gewichtung der einzelnen Faktoren ist individuell vorzunehmen.“ (131). (* Anmerkung: Die International Association for the Study of Pain (IASP) hat die Dauer von drei Monaten bei zyklischen Schmerzen als nicht lange genug eingeschätzt.)
Die häufigste Form der Vulvodynie ist die sekundäre provozierte Vestibulodynie. Sie tritt eher im prämenopausalen Alter auf, während die sekundäre generalisierte Vulvodynie eher postmenopausal vorkommt (139). Die primäre Vestibulodynie ist seltener, hat aber eine schwierigere Prognose.
Kodierung
In der derzeitigen ICD-10, in der der Begriff Vulvodynie nicht vorkommt, können die Codes F52.6 nicht-organische Dyspareunie oder F45.40 somatoforme Schmerzstörung oder F45.41 chronische Schmerzen mit somatischen und psychischen Faktoren verwendet werden. In der ICD-11 der WHO vom Mai 2019, die seit dem 1. 1. 2022 weltweit gelten soll, aber in Deutschland noch eine bis fünfjährige Übergangsphase durchläuft, gibt es ab GA34.0 –Schmerz bezogen auf Vulva, Vagina oder Beckenboden – die Codes GA34.00 Vulvaschmerz, GA34.01 Perineale Schmerzen, GA34.02 Vulvodynie und GA34.0Y sonstiger näher bezeichneter Schmerz bezogen auf Vulva, Vagina oder
Beckenboden und GA34.0Z Schmerz bezogen auf Vulva, Vagina oder Beckenboden, nicht näher bezeichnet.
Der Code GA34.02 Vulvodynie hat den folgenden Text:
„Vulvodynie beschreibt eine chronische Empfindung von Schmerz, Brennen oder Rauheit der Vulva-Haut, die keiner spezifischen Ursache zugeordnet werden kann und mindestens drei Monate lang anhält.
Die Symptome können diffus und unprovoziert (dysästhetische Vulvodynie) oder lokalisiert sein, meist im Bereich des Vulva-Vestibulums, und durch Berührung ausgelöst werden (Vestibulodynie). Die dysästhetische Vulvodynie tritt charakteristischerweise bei postmenopausalen Frauen auf, die oft nicht sexuell aktiv sind: Der Schmerz ist spontan und tritt oft unabhängig von Berührung auf. Die Vestibulodynie tritt typischerweise bei jüngeren Frauen auf und ist durch vestibuläre Empfindlichkeit bei Berührung, Erythem des vestibulären Epithels und sekundäre Dyspareunie gekennzeichnet.“
Die Beschreibung von Vulvodynie in der neuen Kodierung, die auf die Task Force of the International Association for the
Study of Pain (IASP) zurückgeht, ist von führenden Experten der International Society for the Study of Vulvovaginal Disease (ISSVD) kritisiert worden, da z. B. die Bezeichnung „dysästhetische Vulvodynie“, zu der Schmerzen durch Herpesneuralgie oder ein verursachendes Neurinom zählen, seit 2003 für Vulvodynie nicht mehr zutrifft. Außerdem sollte der Begriff „unprovoziert“ nicht
mehr gebraucht und gegen „spontan“ ersetzt werden (siehe Tab. 1), das mögliche Erythem gehört nicht zu den diagnostischen Kriterien und kann auch normal sein (sollte also nicht in der Beschreibung aufgeführt werden). Außer- dem ist Vulvodynie innerhalb der Klassifikation nicht unter chronischen primären Schmerzstörungen aufgeführt (98). Denkbar wäre die Vulvodynie im Bereich der somatischen Belastungsstörung („Bodily Distress Disorder“ ICD-11) einzuordnen. Es bedarf also noch einiger Verbesserungen dieser Klassifikation in der ICD-11.
Erfahrungen der Frauen bis zur richtigen Diagnose
Erst seit etwa 15 Jahren ist aufgrund erster deutschsprachiger speziell frauenärztlicher Publikationen (37, 60, 63, 80, 81, 82, 109, 113) auf die Vulvodynie aufmerksam gemacht worden. Außer- dem haben der Verein Lichen sclerosus/ Schweiz und der Verein Lichen sclerosus Deutschland e. V. jeweils eine Untergruppe Vulvodynie ins Leben gerufen, wo Betroffene fachlich beraten werden und Betroffenen helfen, mit dem Krankheitsbild vertraute Ärztinnen und Ärzte zu finden, Tipps für den Alltag und psychischen Halt geben. Am 26. 8. 2022 fand der 1. Deutsche Vulvodynie-Tag des Vereins Lichen sclerosus Deutschland e. V., Untergruppe Vulvodynie statt und am 16. 9. 2023 der 2. Deutsche Vulvodynie-Tag in Wuppertal. Der nächste Vulvodynie-Tag ist 2025 in Berlin vorgesehen. Auch die Medien kümmern sich zunehmend um mehr Aufmerksamkeit für Vulvodynie (z. B. Frau TV / WDR III vom 21. 5. 2021, mehrere Frauenmagazine).
Aus all diesen Erfahrungen wird deutlich, dass die betroffenen Frauen meist eine Odyssee von Arztbesuchen über Jahre hinter sich hatten, bis die richtige Diagnose gestellt wurde. Die Latenzzeit bis zur Diagnose betrug um 2018 im Zentrum des Erstautors in Wuppertal bei den 457 ausgewerteten
Patientinnen im Mittel über vier Jahre mit 4 bis 15 Arztbesuchen (Gynäkologie, Urologie, Dermatologie). Das hat sich aufgrund der intensiven Aufklärungsarbeit der letzten Jahre gebessert. Inzwischen kommt es immer häufiger vor, dass Frauen mit einem Überweisungsschein und der Verdachtsdiagnose Vulvodynie weitergeschickt werden. Über die Hälfte der Patientinnen des Wuppertaler Zentrums kommen allerdings nach jahrelangem „Brennen und Entzündungen“ aufgrund eigener Internetrecherche zu uns und haben die Verdachtsdiagnose Vulvodynie oder auch (Lichen sclerosus) aufgrund ihrer Beschwerden selbst herausgefunden!
Diese Erfahrungen decken sich mit einer Publikation eines englisch-australischen Autorenteams (129). Demnach suchten nur etwa die Hälfte der Frauen mit sol- chen Beschwerden ärztliche Hilfe und erhielten dann nur in 2 % die richtige Diagnose. Es konnten 8 von 20 über 18 Jahre alten Frauen, die mit der ärztlichen Diagnose Vulvodynie alle Einschlusskriterien erfüllten, von der London Vulvar Pain Support Group, einer
Interessengruppe, die dem Verein Lichen sclerosus Deutschland e. V., Unter- gruppe Vulvo dynie ähnelt, und der Vulvar Pain Society standardisiert nach einer wissenschaftlich evaluierten Methode befragt und ausgewertet werden. Die Diagnose musste mindestens seit sechs Monaten und höchstens seit sieben Jahren bestehen. Die Erfahrungen und Zitate offenbaren eine katastrophale Verständnislosigkeit und fehlende Empathie mit Abwehrverhalten von angefragten Ärztinnen/Ärzten sowie Gefühle der Scham, Stigmatisierung und Enttäuschung auf Seiten der betroffenen Frauen, welche die ohnehin vorhandene psychische Belastung der Patientinnen noch verstärkte. Typische Zitate aus dieser Arbeit sind (aus Gründen der Authentizität in der englischen Originalsprache): “It’s the constant battle of feeling believed …, I’ve got this, this massive fear that, of being unbelieved” (Laura). Bei der unsensiblen und damit sehr schmerzhaften gynäkologischen Untersuchung (die nach eigenen Erfahrungen auch oder gerade oft von Frauenärztinnen erfolgt) wurde berichtet: „it actually felt I’d been assaulted … I felt really violated“ (Lilly) und: „I’ve just got no trust in doctors, I’m angry, I just, I just hate them“ (Laura). Einige Teilnehmerinnen an der Studie empfan den stark, dass die richtige Diagnosestellung der Schlüssel zum Vorwärtskommen war (Amy, Laura). Sieben der acht befragten Frauen bezeichneten die psychologischen Folgen ihrer Odyssee durch das „Gesundheitssystem“ als „Isolation“, „Panik“, „Depression“, „Angst“, „erniedrigtes Selbstwertgefühl“, „Hoffnungslosigkeit“, „Wut“, „Furcht“ und „Demütigung“, was wiederum eine negative Rückkopplung auf ihre sexuellen und verwandtschaftlichen Beziehungen, ihre Arbeit und ihren Schlaf aus übte, was zur Steigerung ihrer Vulvodynie-Schmerzen beitrug. Wenn die Diagnose endlich ausgesprochen worden war, blieb aber oft Rat- und Hoffnungslosigkeit, weil die Ärztinnen/Ärzte keine hilfreiche Therapie kannten. Es wurde auch bedauert, dass häufig sinnlose und diskriminierende Überweisungen in eine STI-Klinik (STI = sexually trans mitted infection) erfolgten. (Da solche Kliniken in Deutschland eine Rarität sind, wird hierzulande oft in eine Dysplasie-Sprechstunde geschickt – was genauso belastend ist, da dort der Fokus auf Dysplasie liegt und die dort obligatorische Essigsäure-Probe bei Vestibulodynie wie Feuer brennt und erneut traumatisiert). Weiterhin empfanden die Betroffenen ein ärztlich-paternales Verhalten unangebracht, mit Äußerungen wie: sie seien „neurotisch oder hysterisch, sollten mal ein Glas Wein trinken oder ein warmes Bad nehmen“. Oder: Männer würden ernst genommen, wenn sie über Erektionsstörungen klagen, Frauen mit Vulvodynie eher nicht… Alle Frauen forderten mehr Respekt und Verständnis. Schließlich wird die Vermutung ausgesprochen (Vicky), dass ihre Erfahrungen im (Anm. der Verf.: englischen) Gesundheitssystem von ökonomischen Prioritäten geprägt sind, die einerseits für Frauen mit Vulvodynie und andererseits für Frauen überhaupt im Gegensatz zu Männern negativ aus- fallen. Daraus wird abgeleitet, zukünftig ein Gesundheitssystem zu fördern, das Frauen mit solchen Beschwerden nicht nur richtig diagnostiziert, sondern auch effektiv behandeln kann (139).
Im deutschsprachigen Raum werden die Interessen dieser Frauen vom Verein Lichen sclerosus Deutschland e. V. – Untergruppe Vulvodynie (www.vulvodynie-deutschland.de) und Netzwerk Vulvodynie mit primärem Sitz in der Schweiz (www.vulvodynie.ch) vertreten. Beide Vereinigungen sind ärztlich gut beraten.
Epidemiologie
Aus Deutschland liegen keine Daten zur Prävalenz und Inzidenz der Vulvodynie vor. Die Prävalenz von Vulvodynie wird in der Literatur zwischen 8 und mehr als 20 %, meist zwischen 10 und 16 % angegeben, wobei junge Frauen häufiger als postmenopausale Frauen betroffen sind (6, 58, 102, 139). In Portugal fanden Vieira-Baptista et al. (140) zwischen Juni und November 2013 bei 1.229 befragten Frauen in 6,5 % während der Befragung und anamnestisch in 9,5 % eine Vulvodynie. Bei einer validierten Fragebogenaktion in Spanien (684 Frauen über 18 Jahre, April 2016 bis September 2017) war die Prävalenz von Vulvodynie 6,6 %, 13 % hatten eine Vulvodynie im Lauf ihres Lebens schon einmal gehabt (52). Hispanische Frauen haben ein etwa doppelt so hohes Risiko für Vulvodynie und auch primäre Vulvodynie, schwarze Frauen sind nur halb so oft wie weiße Frauen betroffen (6).
Im Zentrum in Wuppertal waren zwischen 2011 und 2016 von 457 Frauen mit Vulvo-/Vestibulodynie 50,8 % zwischen 18 und 30 Jahren alt, 25,6 % zwischen 31 und 44 Jahren und 15,1 % über 50 Jahre alt, einige wenige unter 12 Jahren oder über 80 Jahre alt (131).
Es handelt sich also keinesfalls um eine seltene Erkrankung; sie tritt in allen Altersgruppen auf und könnte im Alltag einer gynäkologischen Praxis fast täglich vorkommen! Etwa 60 % der Frauen mit chronischem Vulvaschmerz suchen ärztliche Hilfe auf, bekommen aber nur in der Hälfte der Fälle die richtige Diagnose gestellt (6).