Teil 3: Anamnese, Diagnostik, Therapieempfehlungen

In den Teilen 1 und 2 dieses Beitrags (erschienen in FRAUENARZT 9 und 10/2024) wurden Historie, Definition, Kodierung, Erfahrungen der Frauen bis zur richtigen Diagnose, Epidemiologie, Symptome, Komorbiditäten sowie Pathophysiologie der Vulvodynie und die neuen neurobiologischen Erkenntnisse zu chronischen Schmerzerkrankungen dargestellt. In diesem dritten und letzten Teil folgen Anamnese, Diagnostik und Therapieempfehlungen.

Zunächst möchten wir anhand einer beispielhaften Kasuistik aus der Praxis für Sexualmedizin und Sexualtherapie des Erstautors verdeutlichen, mit welchem Leidensdruck und welcher Vorgeschichte die Vulvodynie-Patientinnen in die Praxis kommen und zeigen, wie Anamnese und gynäkologische Untersuchung an die spezielle Situation angepasst durchgeführt werden können.

Beispielhafte aktuelle Falldarstellung

Anamnese und Diagnostik

Die 32-jährige, 1,68 cm große, schlanke, äußerst angespannt wirkende Chemielaborantin legt eine umfangreiche Krankengeschichte vor mit zahlreichen Arztkontakten, Untersuchungen und Therapieversuchen. Sie wird geschickt von Prof. Mendling, den sie in Wuppertal aufgesucht hatte. Von ihm liegt ein ausführlicher Arztbericht vor mit der Empfehlung einer multimodalen Behandlung bei uns, eventuell stationäre Aufnahme in eine psychosomatische Klinik oder Tagesklinik.

„… Ich habe chronische Schmerzen und Brennen im Bereich der kleinen Lippen und der Harnröhre. Ich habe Angst, dass ich die Bakterien in meiner Harnröhre und in der Blase nicht mehr loswerde. Ich habe Angst, dass sich die Bakterien immer weiter vermehren; ich setze mich deswegen richtig unter Druck.

Ich habe unklare Bauchbeschwerden und wenn ich unter Stress gerate, habe ich Durchfall. Ich leide seit vielen Jahren unter Bruxismus und trage nachts eine Beißschiene. Ich habe manchmal Albträume, Herzrasen und Schweißausbrüche, ohne zu wissen warum. Durch meine jahrelangen Schmerzen leidet auch meine Beziehung. Geschlechtsverkehr ist nur noch selten möglich, da die Angst viel zu groß ist, nach dem Sex an stärkeren Schmerzen zu leiden und die große Angst davor, Bakterien könnten wieder in die Harnröhre gelangen und eine Entzündung auslösen. Deswegen habe ich oft keine Lust und ein schlechtes Gewissen meinem Mann gegenüber. Dabei ist er sehr einfühlsam, versteht meine große Belastung und akzeptiert jegliche Entscheidung meinerseits. Er ist immer noch der verständnis- vollste Gesprächspartner für mich. Wir sind immer noch ein gutes Team und die Liebe wurde nur noch stärker. Oft ist aber die Traurigkeit mein Begleiter. Ich möchte meine Probleme endlich lösen und sie nicht weiter aufschieben … “

Die Patientin berichtet:

Der Arzt:

Ich äußere, dass ich Zeit brau-che, um ihre Vorgeschichte zu studieren. In zwei Wochen werden wir uns wiedersehen, dann würde ich sie auch behutsam gynäkologisch untersuchen.

In diesem ersten Gespräch aber lernen wir uns kennen.

Sie erlitt bei der Geburt eine Fruchtwasseraspiration, musste auf die Kinderintensivstation verlegt werden. Dort verblieb sie wohl etwas länger, die Mutter gab die Muttermilch auf der Intensivstation ab. Die Mutter habe sie in den ersten Lebensjahren „in Watte gepackt.“ Die Mutter habe selbst psychische Probleme, ohne sich helfen zu lassen.

Beginnend mit 14 Jahren macht sie erste sexuelle Erfahrungen, die nach anfänglicher Dyspareunie sexuell befriedigend erinnert werden. Gewalterfahrung wird verneint. Mit 24 Jahren heiratet sie einen ein Jahr älteren „einfühl- samen“ Informatiker. Kinderwunsch bestand gleich zu Beginn der Ehe. Es kommt zu zwei Frühaborten 2017 und 2018. Nach Behandlung in einem Kinderwunschzentrum wird 2020 ihr Sohn geboren. Während der Schwangerschaft bestanden ausgeprägte Ängste vor einer erneuten Fehlgeburt.

Das Studium ihrer Anamnese zeigt im Verlauf von sechs Jahren folgende dokumentierte Untersuchungen:

  • Konsultationen: acht FrauenärztInnen, zwei an der UFK Freiburg und UFK Basel, zwei UrologInnen, zwei AllgemeinärztInnen, ein Internist, eine Heilpraktikerin
  • Untersuchungen: eine Laparoskopie, eine Gastroskopie, eine Koloskopie, drei Zystoskopien, drei Laserbehandlungen der Vagina (jeweils 20 Minuten, 400 Euro pro Behandlung), TCM- und Pohltherapie, Behandlung mit einem Urethralpessar, zahlreiche Laboruntersuchungen auf Bakterien, Pilze, Mikrobiomuntersuchung von Vagina und Darm in fünf verschiedenen Laboren. Zuletzt war im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie zur Behandlung des urethralen Schmerzsyndroms eine spezielle Lasertherapie der Urethra und der Vagina geplant. Die Patientin hat davon Abstand genommen. Eine Oberärztin in der Ambulanz der UFK Freiburg mit Basisausbildung Sexualmedizin empfahl eine Überweisung in die fachübergreifende Frauensprechstunde der psychiatrischen Universitätsklinik.

Die gynäkologische Untersuchung

Nach geduldiger „Entgegennahme“ der Anamnese erfolgt die gynäkologische Untersuchung. Dazu ist die folgende Voraussetzung wichtig: Um den psycho- somatischen, psychosozialen und sexuellen Hintergrund der Patientin mit Vulvodynie erfassen zu können, ist vor je- der gynäkologischen Untersuchung eine einfühlsame Anamneseerhebung erforderlich, was bedeutet, dass bio-psychosoziale Aspekte systematisch erfasst werden müssen. Dies muss allerdings erlernt werden, denn eine vorschnelle

„Psychologisierung“ zu Beginn der Behandlung führt nicht selten zum Abbruch der Arzt-Patientin-Beziehung, da der Patientin zu diesem Zeitpunkt der Zusammenhang von genitalem Schmerzsyndrom und zugrunde liegender psychosomatischer Problematik noch nicht erkennbar und schon gar nicht einfühl- bar ist. Um eine tragfähige dauerhafte Beziehung zu dieser Patientin mit somatoformer Störung aufzubauen, die es später ermöglicht, psychisch belastende Lebensumstände anzusprechen, muss ein gemeinsames Krankheitsmodell, die sogenannte Passung, hergestellt werden.

Die gynäkologische Untersuchung um- fasst Abklopfen der Nierenlager, Abtasten des Abdomens und der Leistenregion. Danach folgt die Inspektion der Vulva mit einer ausführlichen Kolposkopie, die begleitet werden sollte mit Worten wie etwa: „Frau X, ich betrachte Ihre gesamte Scheideneingangsregion mit starker Vergrößerung. Außer einer geringen Rötung der kleinen inneren Lippen, was normal ist, kann ich nichts Krankhaftes finden …“.

Danach erfolgt – nach Vorankündigung – das behutsame Abtasten der Vulva, insbesondere der kleinen Lippen, mit einem Q-Tip. Hierbei können die für die Vulvodyniepatientin typischen Befunde erhoben werden. Es folgt ein sanfter Druck mit dem Zeigefinger auf den Damm, etwa 2 Zentimeter dorsal des hinteren Introitus. Die gut zu beobachtende Schmerzreaktion der Patientin gibt einen ersten Hinweis auf Ausmaß und Intensität der Beckenbodenmuskelverspannung. Da sich mehrere Becken- bodenmuskelstränge im Centrum tendineum perinei vereinen und dieses muskulofasziale Gewebe sich unmittelbar dorsal und kaudal im Bereich des hinteren Introitus befindet, erklärt dies den häufigen dort vorhandenen ausgeprägten Schmerzpunkt. Es folgen die pH-Bestimmung, die Nativpräparat-Mikroskopie, eine eventuelle bakterielle und/oder mykologische Zusatzuntersuchung. Nach Inspektion der Vagina unter Spiegeleinstellung folgt – nach genauer Vorankündigung – die behutsame Palpation, welche zumindest mit einem in die Vagina eingeführten Finger eigentlich immer gelingt. Der behutsam tastende Finger findet die für die Vulvodynie pathognomische dystone Beckenbodenmuskulatur. Bei Druckerhöhung mit dem tastenden Finger bestätigt die Patientin die schmerzhaften Druckpunkte.

Danach gelingt es meist, mit Zeige- und Mittelfinger auch rektovaginal zu untersuchen, was das Ausmaß der Beckenbodenmuskel-Dystonie noch deutlicher macht. Insbesondere der M. transversus perinei superficialis tastet sich als brettharte, meist sehr dolente „scharfe Kante“. Mit einiger Erfahrung gelingt es, einzelne Muskelpartien gezielt herauszutasten. Sehr gut sind die Levatormuskeln als dolente straffe „Platte“ zu tasten. Eine transvaginale, eventuell auch abdominale Sonografie beschließt die gynäkologische Untersuchung.

Unmittelbar nach der gynäkologischen Untersuchung wird der Patientin – unterstützt durch anatomisches Bildmaterial – ihre Schmerzhaftigkeit als Folge chronisch verkrampfter Beckenbodenmuskulatur erläutert.

Die Vulvodynie-Patientin erhält dadurch oftmals eine erste Erklärung von ihrer Erkrankung. Sie kann sich jetzt vorstellen, wie ihre Schmerzen entstehen. Patientin und Ärztin/Arzt einigen sich auf ein Krankheitsmodell, womit therapeutisch gearbeitet werden kann. Hierzu hat es sich bewährt, Bildmaterial zur plastischen Demonstration der Zusammenhänge (z. B. das Beckenboden-Modell) einzusetzen (Konzept nach Richter, (113)). Unsere Patientin äußerte danach spontan: „… Das hat mir noch niemand so erklärt.“

Bei der Vulvodynie handelt es sich um eine somatoforme Schmerzstörung, welche eine multimodale Behandlungsstrategie benötigt. Dies muss der Patientin entsprechend vermittelt werden.

Krankheitsbilder mit dem Leitsymptom Schmerz stellen für viele Ärzte – auch Schmerztherapeuten – eine diagnostische und therapeutische Herausforderung dar. Die Diagnose somatoforme Schmerzstörung (ICD-10: F45.4) wird häufig erst nach mehrjähriger Krankheitsdauer und multiplen diagnostischen Abklärungen und wenig oder gar nicht erfolgreichen Therapien gestellt (34).

Krankheitskonzept der somatoformen Störungen

PatientInnen mit somatoformen Störungen zeigen geringere Fähigkeiten in der Regulation psychischer Prozesse.

Die Fähigkeit, Gefühle zu benennen, zu regulieren und von körperlichen Begleitreaktionen zu unterscheiden (siehe Arbeitskreis OPD (2)), beschreibt die Struktur der Persönlichkeit im psychologischen Sinne.

Bei somatoformen Störungen mit strukturellen Schwächen findet keine seelische Verarbeitung psychischer Konflikte statt (54). Die Aufmerksamkeit bleibt stattdessen an den körperlichen Reaktionen haften, welche aufgrund der fehlenden emotionalen Verbindung nicht verstanden und im Sinne ängstlich- katastrophisierender Überlegungen als somatische Krankheit gedeutet werden (120, 121).

Entwicklungspsychologisch werden sog. strukturelle Störungen als biografisch früh erworbene Störungen der Persönlichkeitsentwicklung ? oft aufgrund von Vernachlässigung oder Gewalterfahrung ? verstanden. Dieses Entwicklungsdefizit (z. B. der Gefühlsregulierung) „versetzt die Patientin situativ in hilflose Verzweiflung, die sie ähnlich einem außer sich geratenen Kleinkind nicht allein bewältigen kann“ (121).

Eine zentrale Rolle bei den fehlgedeuteten Körperbeschwerden spielt das „Desomatisierungskonzept“ von Max Schur (154): Beim Kleinkind sind alle Gefühle primär stark an den Körper gebunden, d.h. sie werden rein körperlich erlebt. Im Sinne eines Reifungsprozesses kommt es dann schrittweise zur „Desomatisierung“ dieser Gefühle, wodurch diese differenziert als Gefühle psychisch erlebbar werden (154), in unzähligen Interaktionsepisoden des „Gehört-, Beantwortet- und Verstandenwerdens oder des Beruhigt-, Getröstet- und Befriedigtwerdens“ (120). Im Erwachsenenalter kann sich solch eine mangelhafte „Desomatisierung“ dann beispielsweise in körperlichen Missempfindungen oder Schmerzen bis hin zu dissoziativen Symptomen manifestieren. Auch seelische Belastungen im späteren Leben können dazu führen, dass eine bereits erworbene Differenzierung von Gefühlen und körperlichen Empfindungen wieder verloren geht („Resomatisierung“). Die Aufgabe des Arztes und Psychotherapeuten bei diesen Patientinnen ist es, sich aktiv zu engagieren, vorübergehende Hilfs-Ich- Funktion zu übernehmen und für die Patientin regulierend und reflektierend zu wirken, um dann (122) gemeinsam nach alternativen Verhaltensmöglichkeiten und Bewältigungsstrategien zu suchen. Dies kann auch – bei entsprechender Weiterbildung – im Rahmen gynäkologischer Behandlungen geschehen.

Bei Patientinnen mit somatoformen Störungen ist also eine wichtige ärztliche Aufgabe zu leisten: eine ausführliche psychosomatische Anamnese in ruhiger, empathischer Atmosphäre, die mögliche biografische Belastungen hin- sichtlich primärer Bezugspersonen in Kindheit und Jugend abfragt und Traumatisierungen und komorbide Störungen erfasst (Abb. 1).

In Konsequenz dieser Erkenntnisse haben die Autoren zum besseren Verständnis und besseren therapeutischen Umgang mit Patientinnen mit Vulvodynie einen Fragenkatalog entwickelt, der etwa 30 Minuten in Anspruch nimmt und wichtige Erkenntnisse gibt für die einzuschlagende Therapie (Anamnesebogen siehe Anhang der Online-Version dieses Beitrags und QR-Code auf Seite 909. Dort finden Sie auch typische Ergebnisse der Befragung (Mendling 2019)).

Diese „psychosomatische Exploration“ sollte erst durchgeführt werden, nach dem die Untersuchung mit anschließen- der bildgestützter Erklärung der Schmerzursache stattgefunden hat.

Dabei ist es wichtig, Verständnis, Wärme und Wertschätzung für die Patientin auszustrahlen, bescheidene Ziele zu setzen und viel therapeutische Geduld auf- zubringen.

Eigene therapeutische Strategien bei Patientinnen mit Vulvodynie

Nach gelungenem Aufbau einer trag- fähigen Arzt-Patientin-Beziehung und Einigung auf ein gemeinsames Krankheitsmodell beginnen wir mit einer hoch dosierten Magnesium-Behandlung zur langfristigen Beeinflussung der dysfunktionalen hypertonen Beckenbodenmuskulatur (Rp. Magnetrans forte 3–4× tgl. 1 Kapsel). Zusätzlich verordnen wir ein SSRI-Präparat (Serotonin-Wiederaufnahme- Hemmer z. B. Rp. Escitalopram 5 mg in steigender Dosierung bis maximal 20 mg tgl.). Die SSRI-Gabe bewirkt als potenter Angstlöser mittelfristig eine Veränderung der Schmerzverarbeitung, des „Schmerzgedächtnisses“ und ist grundsätzlich hilfreich bei der Behandlung von chronischen Schmerzen. Durch Reduktion der Angst und unter der speziellen Becken- boden-Physiotherapie entspannt sich allmählich der Beckenboden. Hierbei ist wichtig, dass die SSRI als „zur Abschwächung des Schmerzgedächtnisses“ und als „Angstlöser“ anmoderiert werden müssen und nicht als ein „Antidepressivum“, um die Patientin nicht als „doch psychisch krank, bzw. depressiv“ zu brandmarken, was wiederum zu einer unmittelbaren Kränkung und zum Abbruch der Behandlung führen kann, noch bevor diese wirklich begonnen hat. Wir haben anfangs erlebt, dass Patientinnen gekränkt den Kontakt zu uns abgebrochen haben, weil sie nach Lesen des Beipackzettels das Escitalopram als Antidepressivum eingeordnet haben. Sie fühlten sich von uns in dem Sinne hintergangen, dass wir sie als depressiv diagnostiziert hätten, ohne ihnen dies mitzuteilen. Dies wiegt umso schwerer, da Patientinnen mit somatoformen Störungen sich gerade nicht depressiv fühlen.

Spezielle Physiotherapie des muskulären Beckenbodens

Darüber hinaus umfasst das multimodale Therapiekonzept eine spezielle manuelle Therapie im Unterbauch-Vulva-Damm- und Beckenboden-Gebiet durch in der PhysioPelvica-Physiotherapie ausgebildeten Physiotherapeutinnen, die durch spezielle Weiterbildung erfahren sind, um auch rektovaginal gezielt behandeln zu können (www.ag-ggup.de/therapeutenliste/therapeutenliste-beckenboden). Hilfreich ist es, ein Netzwerk aufzubauen mit persönlichen Kontakten.

Einbeziehung des Partners

Wenn immer möglich, motivieren wir die Patientin zu einem Partnergespräch, um einen Einblick in die Dynamik der Paarbeziehung zu bekommen und um das Ausmaß der sexuellen Problematik besser einschätzen zu können.

Übende Körper-Paartherapie

Nach allmählicher Besserung der Schmerzsymptomatik (Schmerzgedächtnis schwächt sich ab) empfehlen wir dem Paar die stressfreie Wiederentdeckung bzw. Wiederbelebung angenehmer und später dann auch schmerzfrei- er, lustvoller Sexualität durch Körperberührungen, was wesentlich mit zur Abnahme der Schmerzsymptomatik beiträgt. Hier wenden wir die, ursprünglich für den Vaginismus entwickelte, übende Körper-Paartherapie an (Freiburger Modell (114)).

Geduldige Langzeitbegleitung

Im weiteren Verlauf ist es wichtig, eine therapeutische Allianz herzustellen, das heißt Verständnis, Wärme und Wertschätzung für die Patientin auszustrahlen, zusammen mit ihr bescheidene Ziele zu formulieren und viel therapeutische Geduld aufzubringen. Bei schon länger bestehendem Krankheitsbild und ungenügender Einsicht in die zugrunde liegenden psychosomatischen Faktoren kann die konsiliarische Mitbehandlung durch eine(n) Fachärztin/Facharzt für Psychosomatik oder ggf. Psychiatrie oder Psychotherapie notwendig sein, bis die Patientin ein psychosomatisches Krankheitsmodell akzeptieren kann. (Z. B. könnte die Frauenärztin sagen: „Damit Sie Ihre jahrelange Belastung durch die Schmerzen besser verarbeiten können und die Hintergründe Ihrer Schmerzen noch besser verstehen lernen, möchte ich Sie überweisen…“) Eine Zuweisung zu einer Gynäkologin / einem Gynäko- logen, die/der mit dem Krankheitsbild Vulvodynie vertraut ist, ist von großem Vorteil. Zeigen sich bei der Diagnostik mehrere psychosoziale Belastungsfaktoren vor allem in der Kindheit (siehe Anamnesebogen; QR-Code auf Seite 909), ist ein derartiges Konsil unerlässlich. So kann eine multimodale Therapie bestehend aus spezieller Beckenboden- Physiotherapie, Körpertherapie, Entspannungsverfahren mit Psychotherapie und gynäkologischer Begleitung zusammen- geführt werden.

Im Rahmen eines solchen Konsils sollte auch die Indikation für eine stationäre psychosomatische Behandlung ggf. mit Herausnahme aus dem belastenden psychosozialen Umfeld geprüft werden.

Angewandte andere Therapien

In einer Übersicht über die zahlreichen Therapieversuche in der Literatur weisen Schlaeger et al. (126) darauf hin, dass viele Therapien auf Symptomlinderung abzielen, nicht aber auf Erkennen und Behandeln der Ursachen einer Vulvodynie!

Es gibt international keinen gesicherten Konsens zur Therapie. Bergeron et al. (6) weisen darauf hin, dass es, je nach Anamneseerhebung, einfühlsamer Untersuchung und Befundbesprechung bzw. Befunderklärung, schon zur Besserung kommen kann. Es ist jedoch noch nicht durch kontrollierte randomisierte Studien belegt, dass ein multimodales Vorgehen – wie das von uns hier vorgestellte und bis jetzt als erfolgreich angesehene therapeutische Konzept – wirklich besser ist als eine einzelne therapeutische Maßnahme.

Es gibt eine Vielzahl von Therapie-Stu- dien zum Krankheitsbild der Vulvodynie. Sie alle, auch nur begrenzt, vorzustellen, würde weit über den Rahmen unserer Arbeit hinausgehen. Daher können nur punktuell einzelne Studien vorgestellt werden:

  • Physiotherapie und Achtsamkeit (systematische Review und Metaanalyse) mit signifikanter Verbesserung von Schmerzkatastrophisierung und Sexualfunktion (9)
  • orales Amitriptylin (u. ) mit signifikanter Verbesserung der Schmerzen bei mehr als der Hälfte der Fälle (108)
  • lokale Creme mit B. Amitriptylin, Ketamin, Baclofen, Phenytoin mit Besserung (69, 70, 72, 93, 100)
  • Botulinumtoxin-A-Injektionen in die schmerzende Region mit einzelnen Vorteilen, gegen Placebo aber nur mit gleichartiger Verbesserung in beiden Gruppen (97, 98) ohne signifikante Verbesserung gegen Placebo mit 50 AE (Allergan-Einheiten) (10)
  • Lokal Lidocain, teils kombiniert mit kortikoidhaltigen Cremes/Gelen mit Verbesserung. Lidocain wirkt aber nur etwa 2 Stunden lang (149) und wird nicht zur Langzeittherapie empfohlen.
  •  Neuraltherapie mit Injektion von 1 % Procain mit Erfolg in bis 80 % der Fälle (143, 111, 144)
  • transkutane Elektrostimulation/ TENS mit signifikantem Erfolg gegenüber Placebo (89), in anderen Studien nicht besser als Placebo
  • „Softlaser“-Therapie mit Erfolg in einem gemischten Kollektiv (90) und ohne Erfolg in einer placebokontrollierten Studie (76)
  • Kognitive Verhaltenstherapie hat sich in verschiedenen Formaten (z. Gruppentherapie, Kombination mit Achtsamkeit) als erfolgreiche Behandlungsoption für Vulvodynie erwiesen (6).
  • Akupunktur (2×/Woche, insgesamt 10 Sitzungen) mit signifikant reduzierten Schmerzen und Anstieg der sexuellen Funktion bei einem Pilotkollektiv von 18 Frauen im Vergleich zu einer randomisierten Kontrollgruppe (125)
  • Bei wiederholten Vulvovaginalkandidosen, die kulturell durch Nachweis von albicans gesichert sein müssen, sollte ähnlich wie bei chronisch rezidivierenden (> 3 Episoden/Jahr) Vulvovaginalkandidosen eine 6- bis 12-monatige orale Fluconazol-Prophylaxe durchgeführt werden.

Vestibulektomie

Die Indikation zur Vestibulektomie sollte nie primär, sondern nur als letzter Versuch erfolgen und nur von Erfahrenen gestellt werden. Die operativen Ergebnisse entsprechen in etwa denen der konservativen Therapie (6, 27, 49, 136, 133). Es wurden mehrere Operationstechniken beschrieben (lokale Exzision, totale Vestibulektomie, Perineoplastik). Die wohl üblichste dieser Methoden ist die totale Vestibulektomie.

Haag-Wackernagel weist mit Recht darauf hin, dass – unabhängig der OP- Technik – Genitalkörperchen, die für die Erregung eine große Rolle spielen, irreversibel entfernt werden. Mir (Richter) sind vier Patientinnen im Z. n. Vestibulektomie bekannt, bei denen nach 2 bzw. 3 Jahren die Schmerzsymptomatik fast unverändert wieder auftrat.

Wenn man vom heutigen Verständnis der Vulvodynie ausgeht, so muss angenommen werden, dass der psychosomatisch induzierte Schmerz nicht einfach wegoperiert werden kann.

Nachdem die vielgestaltigen psychosomatischen Variablen von Patientinnen mit Vulvodynie mittlerweile bekannt sind, ist kaum zu erwarten, dass die hier erwähnten einzelnen Therapiemaßnahmen eine anhaltende Besserung oder gar dauerhafte „Heilung“ erzielen.

Eine der wichtigsten primären Maßnahmen ist das Beenden von unnötigen oder nicht indizierten lokalen Therapien und das Verstehen der Problematik durch die Patientin, die ja – meist von Ärzten geleitet – gedanklich auf der „falschen infektiologischen Spur“ ist, was einen zusätzlichen erheblichen Stress verursacht!

Die Vulva und besonders das Vestibulum sollten nur mit Wasser oder einer milden Intim-Waschlotion (sofern sie vertragen wird), die ggf. pflanzliche, die Haut „beruhigende“ Zusätze enthält, gewaschen, abgetupft und ggf. mit einer milden, nicht zu fetten Creme gepflegt werden.

Sollte eine lokale Therapie erforderlich werden, so werden folgende Rezepturen angeboten:

Rp.: Baclofen 2 %
Amitriptylin 2 %
(individuell beides bis 4 %)
Basiscreme ad 30 g (2×/Tag dünn auf das Vestibulum auftragen)

oder

Rp.: Baclofen 3 %
Phenytoin 10 %
Mandelöl 2 g
Unguentum emulsificans ad 30 g
2×/Tag dünn auf das Vestibulum auftragen).
(Der Patientin erklären, wo das Vestibulum ist!)

Die Wirkstoffe müssen von einer Apotheke bevorratet und für das Rezept zur Creme off-label gemischt werden.

Bei schwergradigen und chronifizierten Fällen oder bei erheblichen psychosozialen Belastungen bzw. Traumatisierungen ist eine stationäre Behandlung indiziert.

Das Konzept der stationären multimodalen, psychosomatisch psychotherapeutischen Behandlung

Das Konzept beinhaltet eine therapeutische Gemeinschaft, wie eine therapeutische Familie, bei der modellhaft neue Beziehungserfahrungen gemacht wer- den können. Es besteht zudem eine Distanz zum oft belastenden psychosozialen Alltag.

Die Behandlung erfolgt durch ein multiprofessionelles Team, bestehend aus Psychotherapeuten, Ärzten, Pflegekräften, Sozialarbeitern und Spezialtherapeuten. Ein multimodales Therapieangebot beinhaltet Einzel- und Gruppentherapie sowie – je nach Indikation – Kreativ- und Körpertherapien. Es werden psychodynamische, strukturbezogene und verhaltenstherapeutische Psychotherapiekonzepte integriert. Der Fokus ist „die Bewältigung struktureller Einschränkungen sowie die Entwicklungsförderung“ (121). Therapieziele sind Selbstwirksamkeit, Handlungskompetenz und neue strukturelle Fähigkeiten (122).

Therapeutisch hat sich der Zugang über körperorientierte Verfahren als fruchtbar erwiesen. Hier werden Grenzen spürbarer gemacht und Strategien zur Selbstberuhigung erlernt.

Die Wirksamkeit stationärer psychodynamisch orientierter Psychotherapie ist belegt: ES = 0,68 (Effektstärke) für die Somatisierungssymptomatik (7, 57).

Multimodale, stationäre psychosomatische Behandlung bei Vulvodynie – eigene Behandlungsergebnisse

Bei chronifizierten Vulva-/Genitalschmerzen aufgrund psychischer Belastungen hat sich für uns eine stationäre multimodale psychosomatische Behandlung bewährt. Der Behandlungsrahmen von etwa 6–8 Wochen ist oft ausreichend zur Besserung der Beschwerden. Wichtig sind zudem integrierte Paargespräche, in denen die Motivation für eine Paar- oder Sexualtherapie geklärt werden kann. Selbstverständlich ergänzen medizinische Maßnahmen das multimodale Konzept.

In der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Kreiskliniken Lörrach wurden vom April 2021 bis Oktober 2022 sieben Patientinnen mit der Erstdiagnose Vulvodynie zwischen 22 und 70 Jahren behandelt. Die Behandlungsdauer lag zwischen 5,5 und 10 Wochen. Alle Patientinnen hatten psychische Komorbiditäten wie Angst und Depression. Im Rahmen der Behandlung besserten sich alle Patientinnen bezüglich ihrer psychischen Symptomatik. Bei fünf von sieben kam es zu einer klaren Besserung der Schmerzsymptomatik, zwei fanden einen besseren Umgang mit ihrem Schmerz. Alle sieben Patientinnen profitierten von dem angebotenen Aufenthalt und wurden zu einer anschließenden ambulanten Psychotherapie, zum Teil zu einer Intervalltherapie, teils zu einer anschließenden Sexualtherapie motiviert.

Zusammenfassung

Patientinnen mit Vulvodynie in unterschiedlicher Erscheinungsform und vielgestaltiger Symptomatik gehören zu den wirklichen Problempatientinnen in der frauenärztlichen Sprechstunde, da der psychosomatische Hintergrund dieser Somatisierungsstörung noch immer nicht ausreichend bekannt ist.

In der Annahme einer somatischen Erkrankung wird oft zu lange Zeit lokal be- handelt, obwohl sich keine somatische Vulvaerkrankung nachweisen lässt. Häufig wird auf Harnwegsinfekt und/oder auf eine bakterielle oder mykotische Vulvitis/ Kolpitis oder Lichen sclerosus behandelt.

Die Patientin mit Vulvodynie gerät so in den Teufelskreis wiederholter hilfloser unwirksamer Therapiemaßnahmen. Da die Beschwerden, meistens Schmerzen verschiedenster Ausformung, im genitopelvinen Bereich nicht verschwinden, wird nicht selten auch nach Hilfe im paramedizinischen Bereich gesucht.

Netzwerke Vulvodynie:
www.vulvodynie-deutschland.de
www.vulvodynie.ch
www.vulvodynie.de
www.vulvodynie.at

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Vulvodynie – ein brennendes Problem Teil 3