Teil 1: Entwicklung der Mikrobiota – Normale und gestörte Mikrobiota in unterschiedlichen Lebensphasen – Zusammenhänge zwischen Mikrobiota in Vagina und Darm – Das vaginale Mykobiom
Mit der Möglichkeit, durch Gensequenzierung viel mehr Bakterienarten differenzieren zu können als zu- vor durch Kulturen, hat sich das Verständnis von der Keimbesiedlung des menschlichen Körpers und ihrer Bedeutung für Gesundheit und Krankheit dramatisch geändert. Um eine zielführende Diagnostik und Therapie vaginaler Erkrankungen in der gynäkologischen Praxis zu erleichtern, werden in diesem zweiteiligen Beitrag aktuelle Erkenntnisse zum vaginalen und kolorektalen Mikrobiom sowie zu Störungen wie bakterielle Vaginose, aerobe Vaginitis oder desquamative imflammatorische Vaginitis dargestellt und diagnostische Empfehlungen für die Praxis gegeben.
Der gesunde Mensch hat mit zurzeit mindestens 2.000 identifizierten Arten und mit etwa 200 g (frühere Berechnung: 2 kg) Masse mehr Bakterien als Körperzellen (1, 2), die bakteriellen Gene des Dickdarms überschreiten das menschliche Genom um den Faktor 100. Die Mikrobiota des Darms ist für die Modulation von Gesundheit und Krankheit aller Organsysteme verantwortlich und wird als eigenes Organ im Körper verstanden, das mit den zahlreichen Bakterienarten und ähnlich vie- len Virusarten und Bakteriophagen wesentlich unsere Gesundheit beeinflusst. Ohne diese „Mitbewohner“ wäre der Mensch todkrank.
Moderne molekularbiologische Techniken führen ständig zur Entdeckung zahl- reicher Arten in der Scheide, die bisher mit den üblichen Methoden der Anzüchtung auf Nährmedien nicht bekannt waren. Außerdem wurden Arten differenziert, von denen man bisher glaubte, es handele sich um Laktobazillen oder Streptokokken, die in Wirklichkeit aber bei Störungen der Scheide eine Rolle spielen, z. B. Atopobium vaginae.
Kürzlich wurde in einer exzellenten Reihe von fünf Publikationen im Journal of Lower Genital Tract Infectious Disease (3, 4, 5, 6, 7) mit einem Geleitwort von Jack Sobel (8) das gesamte derzeitige Wissen um das vaginale Mikrobiom zusammengefasst.
Wir müssen uns im zukünftigen Alltag auf eine neue Nomenklatur bzw. Sprache einstellen (s. Kasten auf S. 178 – im PDF unten).
Der Einfluss der Mutter
Milchsäure bildende Bakterien der Gattung Lactobacillus tragen schon beim Säugling in hohem Maß zur Gesundheit und zur Entwicklung eines gesunden Immunsystems bei.
Es ist noch vieles unklar, jedoch beeinflusst die mütterliche Mikrobiota nachhaltig die Entwicklung der im Feten heranreifenden Immunität, dessen Stoffwechsel, die Hirnfunktion und das spätere Verhalten (11). Dabei scheinen zwei Prozesse wichtig zu sein: Schon während der Schwangerschaft stellt das mütterliche Mikrobiom im Darm über Metaboliten Stoffe zur fetalen Entwicklung von zentralen und peripheren Im
munzellen und neuralen Funktionen zur Verfügung. Außerdem wird bei der vagi- nalen Geburt und in der frühen Neona- talzeit vertikal das mütterliche Mikro- biom übertragen und führt zu einer wei- teren Stabilisierung des Immunsystems sowie über metabolische Substrate zur Induktion der Hirnentwicklung. Dazu kommen dann epigenetische Einflüsse wie Ernährung, Stress oder Infektionen.
Die vaginale Mikrobiota vor der Menarche
Während das Neugeborene aufgrund des Einflusses der Plazentahormone noch für kurze Zeit eine von Laktobazillen dominierte vaginale Mikrobiota aufweist (Laktobazillus-, Prevotella- und Snethia-Arten), die der der Mutter ähnelt, gibt es über die vaginale Mikrobiota des Mädchens in der hormonalen Ruhephase bisher nur wenige moderne Studien (3). Es herrscht jedenfalls ein der bakteriellen Vaginose (BV) ähneln- des diverses Mikrobiom mit erhöhtem pH-Wert und höherer Empfindlichkeit z.B. für vaginale Infektionen vor, bis die Ovarien die für das Ausbilden des typischen vaginalen Habitats wichti- gen Sexualhormone bilden und eine langsame Verschiebung zu einer von Laktobazillen dominierten Mikrobiota verursachen. Diese ist schon vor der Menarche vorhanden. Es ist aber nicht genau bekannt, welche Mechanismen die genitale Immununabwehr gegen genitale Infektionen beim sexuellen Debüt beeinflussen.
Nur die Vagina von Homo sapiens hat diese Laktobazillus-Dominanz – im Gegensatz zu Menschenaffen. Es wird vermutet, dass sich diese „Kolonisationsresistenz“ durch besonders Lactobacillus crispatus gegen störende andere Bakterienarten in der Entwicklungsgeschichte selektioniert hat, um die (monatliche) Empfängnismöglichkeit und das Austragen einer Schwangerschaft zu begünstigen und dem menschlichen Lebensstil anzupassen (12).
Die normale vaginale Mikrobiota der gesunden Frau während der Geschlechtsreife
Zwar kommen einzelne Laktobazillus- Arten in geringen Mengen in jedem Al- ter in der Scheide vor, aber erst der Einfluss der Eierstockhormone von der Menarche bis zur Menopause begünstigt deren Dominanz und Bedeutung.
Unter dem Einfluss von Östrogenen proliferieren Zellen der Vagina ver- mehrt und speichern Glykogen. Progesteron fördert die Zytolyse dieser Zellen. So wird Glykogen für Laktobazillen frei und von ihnen zu Glukose und Maltose gespalten. Dabei entsteht als Stoffwechselprodukt u. a. Milch- säure (Laktat) und schafft den sauren physiologischen pH-Wert. Die mittlere vaginale Laktatkonzentration ist in vivo 0,79 ± 0,22 % und erzeugt so in vivo einen physiologischen pH-Wert von 3,80 ± 0,20 (13) (übliche Anga- ben: 3,8–4,4). Milchsäure blockiert Histon-Deacetylasen und verbessert so Gentranskriptionen und DNA-Repa- raturen. Sie induziert Autophagie in Epithelzellen und fördert so die Homöostase (14). Bei der bakteriellen Vaginose beteiligte Bakterien können von Milchsäure, nicht jedoch von H2O2 in Schach gehalten werden (15)
Der zervikale periovulatorische Schleim, Sperma und Blut haben einen pH-Wert um 7.
Laktobazillen können als grampositive Stäbchen lang oder kurz, aber auch ku- gelförmig (kokkoid) oder keulenförmig aussehen. Sie induzieren Zytokine und stehen im Crosstalk mit Immunzellen des Vaginalepithels (Langerhans-Zel- len, dendritische Zellen), produzieren neben Laktat auch H2O2, Biosurfactants und Koaggregationsmoleküle zum Schutz vor Adhäsion fakultativ pathogener Bakterien (16).
…